[English version below]
Spätestens seit den letzten Tagen des vergangenen Novembers war es für Musikinteressierte quasi unmöglich, es nicht mitzubekommen, dass David Bowie sich selbst zum 69. Geburtstag am 8. Januar 2016 ein neues Album namens ★ [Blackstar] schenken würde. Sony Music lud zu verschiedenen Terminen die Presse zu Pre-Listening-Sessions ein, wir selbst waren in der Wilhelm-Foerster-Sternwarte in Berlin mit dabei. Und seit Ende November ist es so, dass das Netz überschwemmt wird mit Reviews zu Bowies neuer Großtat. Mit anderen Worten: Sony betreibt einen riesigen Aufriss um ★, damit auch wirklich jeder mitbekommt, dass einer der wandlungsfähigsten Musiker dieses Planeten mit einem neuen Album am Start ist. Welch Kontrast zu Bowies letztem Album „The Next Day“, das nach zehnjähriger Pause 2013 ganz plötzlich einfach so da war. Wir fanden es trotz mehrmaliger Vorführung des Albums in der Sternwarte seinerzeit noch zu früh, um schon eine Review hinauszuposaunen. Inzwischen strahlt der ★ am Musikhimmel und somit ist die Zeit gekommen, noch einmal einen genaueren Blick auf das neue Werk des Pop-Chamäleons zu werfen.
Ich kann mir David Bowie förmlich vorstellen, wie er in seinem Wohnsitz in seiner Wahlheimat New York hockt und, fröhlich vor sich hin feixend, die ganzen Kritiken und Kommentare liest, die schlaue Menschen in großen und wichtigen (Leit-)Medien in die Welt gesetzt haben in dem Versuch, ★ zu erfassen. Ein bisschen komme ich nicht umhin, es ihm gleichzutun. Seit langer Zeit schon gibt Bowie keine Interviews mehr, wenn überhaupt äußert sich sein Produktionspartner Tony Visconti, mit dem er die vorliegenden sieben Stücke des Albums in New York aufnahm, zu den Hintergründen. Viel mehr als die Tatsache zu verkünden, dass sich Bowie bei diesen Arbeiten an dem musikalischen Treiben des US-Rappers Kendrick Lamar inspirieren ließ, ist aber auch einem Visconti nicht zu entlocken. Wie so oft: Der Künstler schweigt und lässt die Welt in Bezug auf ★ ihre eigene Wahrheit finden. Spielt Bowie hier auf den IS an? Oder erzählt er gar eine biblische Geschichte von Tod und Auferstehung? Einige Redakteure wollen im Logo des Albums gar ein Pentagram gesehen haben, passend dazu unterstellten andere, es entstamme einer Jazz-Hölle. Indizien für all diese Vermutungen gibt es im Titelstück sowie dem aktuell mit einem Video bedachten „Lazarus“ genügend. Im Rest des Albums auch. Beweise jedoch nicht. Kleine und große Andeutungen hier und da, aber die Wahrheit bleibt irgendwo da draußen und manifestiert sich ganz individuell im Kopf der Hörer*innen. Übrigens: Wem die Erwähnung Kendrick Lamars Sorgenfalten ins Gesicht treibt – vielleicht war der Rapper Inspirationsquelle, ansonsten aber überschneiden sich Bowie und Lamar musikalisch nicht wirklich.
★ beginnt mit dem gleichnamigen Titelstück, das bei seiner Erstveröffentlichung Ende 2015 nebst einem fulminanten, verstörenden und gleichzeitig betörenden Video einem Paukenschlag gleich sämtliche Aufmerksamkeit auf das neue Album lenkte, und gibt die Marschrichtung für die folgenden 42 Minuten vor: eine wilde Mischung aus Elementen des Jazz, avantgardistischem Art-Pop und immer wieder ziemlich deutliche Anleihen an Breakbeat, wenn auch mit gesetztem Tempo. Ist ja schließlich auch nicht mehr der Jüngste, der Bowie. Wie schon Ende der 90er, als Bowie auf „Earthling“ mit Industrial und Jungle flirtete, wühlte er auch hier in der Wunderkiste verschiedener Musikrichtungen. Ein wenig hiervon, etwas davon und fertig ist eine Mischung, die aus altbekannten Zutaten etwas Neues schafft. Gerade mal sieben Songs mit einer überschaubaren Spielzeit von 42 Minuten als Album zu verkaufen, das darf wohl auch nur ein David Bowie, ohne dass es ihm jemand verübelt.
Zurück zu ★. Die Aufmerksamkeit, aber auch die Geduld der Hörenden werden hier das erste Mal über eine Dauer von ca. zehn Minuten ziemlich gefordert. Vor allem die ersten knapp viereinhalb Minuten gestalten den Einstieg denkbar schwierig. Bowie wimmert bedeutungsschwangere Lyrics ins Mikrofon, während sich Drums, synthetische Streicher und ein Saxofon durch ungewöhnliche Songstrukturen experimentieren. Einen dezenten orientalischen Hauch inklusive. Und dann dieser Bruch, dieser Ausflug in Richtung Pop, harmonische, ohrschmeichelnde Melodien sind auch dabei und das so ausufernd, als hätte man irdische Gefilde plötzlich verlassen und würde das Geschehen fortan durch das All treibend beobachten und sich über die Naivität der Menschen ins Fäustchen lachen.
Treibender, jazziger und etwas einfacher zu verdauen wird es in „‚Tis A Pity She Was A Whore“, wo Piano, treibendes Schlagzeug und extrem nervöses Saxofongeblase beinahe darum wetteifern, welches Instrument diesem Song das meiste Tempo verleihen kann. Die flirrenden Synthies im Hintergrund wirken wie ein Wink aus den 80ern, werden von der restlichen Kakofonie aber immer wieder unterdrückt. Und über allem schwebt Bowies Stimme. Diesem zuckenden, treibenden Song nimmt sie das Tempo, ist der Kontrast zu den instrumentalen Ausbrüchen.
Die einzige wirkliche Verschnaufpause gönnt Bowie seinen Hörer*innen in „Lazarus“, dem Stück, das einer Ballade noch am nächsten kommt. Es ist erneut vor allem ein Saxofon, das sich in den Strophen durch den Raum nörgelt, während es ab und zu von schrammeligen Gitarren, die kurz angerissen werden, eine gewatscht bekommt. Bowie singt: „Look up here, I’m in heaven I’ve got scars that can’t be seen / I’ve got drama, can’t be stolen / Everybody knows me now“, und kurz kommt mir der Hochmut in den Sinn, der dem tiefen Fall stets vorangeht. Und warum fallen wir? Doch bekanntlich nur, damit wir lernen, wieder aufzustehen. Denkbar, dass der kranke, bettelarme Lazarus aus dem Lukasevangelium für den Text dieses Liedes Pate stand. Womit wir einmal mehr bei der Überlegung angelangt wären, Bowies neues Album sei stark von religiösen Motiven durchzogen.
In „Sue (Or In A Season Of Crime)“ treibt Bowie die anstrengende, dissonante „Unhörbarkeit“ dieses Albums auf die Spitze. Breabeats und Disharmonie durchgängig, kein wirklicher musikalischer Höhepunkt – es scheint beinahe so, als wollte Bowie hier die Grenzen ausloten, was er seinen Hörer*innen zumuten kann. Die unbequeme Stimmung, die dieser Song transportiert, bleibt in „Girl Loves Me“ bestehen. Zwar ist diese Nummer deutlich langsamer und weniger kakofonisch ausgerichtet als noch das Stück zuvor, verzichtet aber dennoch nicht auf klangliche Experimente, an denen das Gehör hängen bleibt. Wie an einem Widerhaken. Wie versöhnlich wirkt da hingegen doch „Dollar Days“, beinahe schon wie alte Schule. Mit Akustikgitarre, klarer Melodieführung und Klaviergeklimper, wie Farbtupfer hervor blinkend, schleicht sich kurz das Gefühl ein, inzwischen bei einem anderen Bowie-Album angelangt zu sein. Die dystopische Stimmung, vor allem gegen Ende einmal mehr vom Saxofon unterstrichen, erinnert aber daran, dass wir uns hier nach wie vor auf Bowies sehr eigenwilliger Geburtstagsparty befinden.
Mit „I Can’t Give Everything Away“, dessen auffälligstes Merkmal die Mundharmonika ist, beendet David Bowie seine abgefahrene Reise mit einem Song, der von allen dieses Albums gewöhnlicher Pop-Musik am meisten gleicht. Noch einmal fährt Bowie alle Geschütze auf, die er zuvor schon einmal positioniert hatte – jepp, angeführt vom Saxofon, was auch sonst? – aber dieses Mal in einer harmonischen, versöhnlichen Form. Beinahe so, als wollte er seine Hörer*innen zum Abschluss für ihre Geduld, ihre Aufmerksamkeit und ihr Durchhaltevermögen belohnen. Wieder einmal kann ich mir Bowie vorstellen, wie er sich am Ende einer Live-Darbietung dieses Albums vor seinem Publikum verbeugt und sich bedankt, wobei ihm der Schelm aus den Augen lugt. Ein Jammer, dass die Sache mit den Konzerten genauso vorbei ist wie die mit den Interviews.
Wenn die letzten Töne verklungen sind und sich die Stille im Raum ausbreitet, bleibt man womöglich mit einer gewissen Atemlosigkeit zurück. Meine Güte, was für ein Trip! Eine akustische Achterbahnfahrt sondergleichen, aus der man weder aussteigen kann noch will. Wenigstens so lange nicht, bis man einmal durch ist. Und danach hat sich der schwarze Stern vermutlich auf alle Zeiten ins Gedächtnis gebrannt. Im Guten wie im Schlechten. In jedem Falle ist es ein beeindruckendes, visionäres Spätwerk eines Ausnahmekünstlers, der jeden an seiner Party teilhaben lässt, sich aber ansonsten keinen Deut darum kümmert, ob jemand seiner Vision folgen kann. Oder was davon gehalten wird. Aber zeichnet nicht genau das einen Visionär aus? Dorthin zu gehen, wo noch niemand war, auch wenn es manchmal unbequem ist? Überall anders war nämlich schon jemand.
Ist ★ nun also Bowies bestes Album seit Jahren; Jahrzehnten gar? Das wird wohl jede*r für sich entscheiden müssen. Sein interessantestes und faszinierendstes Album seit Ewigkeiten ist es sicherlich, gleichwohl aber so sperrig, so schwer zu konsumieren und zu verdauen, dass man sich des Eindrucks nie so ganz verwehren kann, dass Bowies musikalische Geburtstagsparty vor allem das Ausloten von Grenzen bedeutet und nicht, möglichst viele Hörer*innen abzuholen. Diese abgefahrene Mischung aus Jazz, avantgardistischem Art-Pop und einer Portion gebrochener Beats spielt mit Erwartungen, wirft sie oft kurzerhand über Bord und zeigt auf, wie man mit klassischen und modernen Elementen Musik revolutionieren kann. Ein bisschen wie die Monolithen in Kubricks „2001“ steht ★ nun im musikalischen Kosmos und strahlt vor sich hin.
Über die Tragweite dieses Albums werden wir erst in einigen Jahren wirklich philosophieren können, schätze ich.
Wird es zu einem postmodernen Klassiker, der in Jahren gefeiert wird wie heute beispielsweise das 1977er-Album „Heroes“, oder wird man es dereinst belächeln wie Bowies Experimente in den späten 90ern und frühen 2000ern? Die Zeit wird es zeigen. Eines ist ihm mit ★ aber zweifelsohne gelungen: ein Album, das seine Hörer*innen nachhaltig beschäftigt. Eines, das man immer wieder hört, vielleicht gar nicht mal zwingend der Unterhaltung wegen, sondern im zum Scheitern verurteilten Versuch, es in seiner eigenwilligen Gesamtheit zu erfassen. ★ ist die wahrscheinlich größte musikalische Herausforderung, die uns Konsument*innen im Jahr 2016 gestellt werden wird.
By the last days of November, it had become virtually impossible for anyone interested in music not to realize that David Bowie was set to gift himself a new album, titled ★ [Blackstar], on his 69th birthday, January 8, 2016. Sony Music invited the press to multiple pre-listening sessions, and we ourselves attended one at the Wilhelm-Foerster Observatory in Berlin. Since late November, the internet has been flooded with reviews of Bowie's latest masterpiece. In other words, Sony is making a massive effort to ensure that everyone knows one of the most versatile musicians on this planet is releasing a new album. What a contrast to Bowie's last record, "The Next Day," which, after a ten-year hiatus, suddenly appeared out of nowhere in 2013. Despite attending the observatory listening session multiple times back then, we felt it was too soon to publish a review. Now, ★ shines in the musical firmament, and the time has come to take a closer look at the latest work of this pop chameleon.
I can practically picture David Bowie sitting in his New York home, grinning to himself as he reads the countless reviews and comments from intellectuals in major media outlets, all attempting to decode ★. I can’t help but do the same. Bowie has not given interviews for a long time; if anyone speaks on his behalf, it is his long-time producer Tony Visconti, who worked with him in New York on the seven tracks of this album. Yet, even Visconti has little more to offer than the fact that Bowie was inspired by the musical style of US rapper Kendrick Lamar. As always, the artist remains silent, leaving the world to find its own meaning in ★. Is Bowie referencing ISIS? Or is he telling a biblical story of death and resurrection? Some journalists claim to see a pentagram in the album's logo, while others suspect it originates from a jazz underworld. The title track and the video-accompanied "Lazarus" provide ample evidence for these theories—but no definitive proof. Hints, both small and large, are scattered throughout the album, but the truth remains elusive, manifesting uniquely in each listener's mind. By the way, if Kendrick Lamar's mention causes concern—while he may have been an inspiration, Bowie and Lamar’s music rarely overlap.
★ opens with its title track, released in late 2015 alongside a striking, unsettling, and hypnotic video that commanded immediate attention. The song sets the tone for the next 42 minutes: a wild fusion of jazz elements, avant-garde art-pop, and unmistakable nods to breakbeat, albeit at a tempered pace. After all, Bowie isn’t the youngest anymore. Just as he did in the late ’90s with "Earthling," where he flirted with industrial and jungle, here he digs into a treasure trove of musical styles, pulling bits from various influences to create something new from familiar elements. Selling just seven tracks with a modest runtime of 42 minutes as a full album—only David Bowie could get away with that without backlash.
Back to ★. The audience’s attention, as well as their patience, is tested from the start, as the opening track stretches for nearly ten minutes. The first four and a half minutes pose a particular challenge—Bowie moans cryptic lyrics into the microphone while drums, synthetic strings, and a saxophone experiment with unusual song structures, tinged with a subtle Oriental flair. Then comes a sudden shift—a transition into pop, complete with harmonious, ear-pleasing melodies, as if one had suddenly left the earthly realm, drifting through space, observing humanity’s naivety with quiet amusement.
"‘Tis A Pity She Was A Whore" takes on a more driving, jazz-infused, and digestible tone, with piano, rapid-fire drumming, and frenzied saxophone competing to set the pace. Shimmering synths hint at the ’80s, only to be drowned out by the chaotic cacophony. Above it all, Bowie’s voice floats, acting as a counterpoint to the instrumental outbursts.
"Lazarus" is the only real moment of respite on the album, the closest thing to a ballad. A saxophone whines through the verses, occasionally smacked down by jagged guitar strums. Bowie sings, "Look up here, I’m in heaven / I’ve got scars that can’t be seen / I’ve got drama, can’t be stolen / Everybody knows me now," and for a moment, thoughts of arrogance before a great fall come to mind. And why do we fall? As we know, so that we can learn to rise again. It’s plausible that the sick, destitute Lazarus from the Gospel of Luke serves as inspiration for the song’s lyrics—yet another indication that religious themes permeate the album.
In "Sue (Or In A Season Of Crime)," Bowie pushes the album’s challenging, dissonant "unlistenability" to the limit. Relentless breakbeats and discord reign, with no clear musical climax—almost as if he is testing how far he can push his audience. This uneasy atmosphere persists in "Girl Loves Me." While slower and less chaotic than its predecessor, it still embraces experimental sounds that stick in the ear like a fishhook.
In contrast, "Dollar Days" feels almost traditional. With acoustic guitar, a clear melodic structure, and flickering piano highlights, there’s a brief illusion of having landed in another Bowie album. But the dystopian mood—reinforced once more by the saxophone—reminds us that we are still guests at Bowie’s bizarre birthday party.
"I Can’t Give Everything Away" closes the album, its most distinguishing feature being a harmonica. Of all the tracks, this one resembles conventional pop music the most. Bowie deploys all his previous musical elements once again—yes, led by the omnipresent saxophone—but this time in a more harmonious, reconciliatory manner, as if rewarding his listeners for their patience and endurance. I can picture Bowie taking a bow at the end of a live performance, a playful glint in his eye. A shame that concerts are a thing of the past, just like interviews.
When the final notes fade and silence takes over, one is left breathless. What a trip! A sonic rollercoaster from which one neither wants nor can disembark—at least not until the ride is over. And by then, the black star has likely burned itself into memory forever, for better or worse. In any case, it is a remarkable, visionary late work from an extraordinary artist who invites everyone to his party but doesn’t care whether they can follow his vision. But isn’t that exactly what makes a visionary? Venturing where no one has gone before, even if it’s uncomfortable? Everywhere else has already been explored.
So, is ★ Bowie's best album in years—perhaps decades? That’s for each listener to decide. But it is undoubtedly his most intriguing and fascinating album in ages. Yet it is so unwieldy, so difficult to consume and digest, that it often feels like Bowie’s musical birthday party is more about pushing boundaries than appealing to a broad audience. This eccentric fusion of jazz, avant-garde art-pop, and fractured beats plays with expectations, tossing them aside just as quickly, demonstrating how classic and modern elements can revolutionize music. Like the monoliths in Kubrick’s "2001," ★ now stands in the musical cosmos, radiating its mystery.
We’ll only truly be able to philosophize about the album’s significance in years to come.
Will it become a postmodern classic, celebrated decades from now like 1977’s "Heroes"? Or will it be dismissed like Bowie’s late ’90s and early 2000s experiments? Time will tell. But one thing is certain: ★ is an album that lingers in the minds of its listeners, one that demands to be revisited—not necessarily for entertainment, but in the futile attempt to grasp its elusive entirety. ★ is likely the greatest musical challenge of 2016.
Roman Empire